Muttertag mit Harrys Familie

Es gibt Geschichten, die sind so unglaublich schön und dabei so unglaublich schrecklich, dass sie schon fast unglaublich sind. So eine Geschichte ist mir gestern beim Uber-Fahren passiert.

Zwei Dinge sollte ein Uber-Fahrer tunlichst vermeiden, sonst riskiert er seine Lizenz: Erstens: Anderen Verkehrsteilnehmern in Anwesenheit eines Fahrgasts den Vogel zeigen. Zweitens: Mehr Passagiere im Auto transportieren, als Sicherheitsgurte zur Verfügung stehen. Das mit dem Vogel hat bisher ganz gut geklappt, schließlich gibt es für den äußersten Notfall noch den Mittelfinger. Bei den Sicherheitsgurten hört der Spaß allerdings auf. Da kennt der Uber-Fahrer keine Kompromisse. Bis gestern.

Wenn sich am Muttertag eine Zahnarztpraxis auf der Uber-App meldet und eine fünfköpfige afrikanische Familie erwartungsvoll mit Rollstuhl vor der Tür steht, ist Umdenken angesagt. Celine, so heißt die junge Zahnärztin, die den Taxi-Service bestellt hatte, bittet mich, bei den Sicherheitsgurten ein Auge zuzudrücken. „Die haben schon genug mitgemacht“, sagt sie, während wir jetzt zu dritt versuchen, den altersschwachen Rollstuhl im Kofferraum meines Kleinwagens zu verstauen.

Celine bestellte den Fahrservice, nachdem sie die nigerianische Mama nach einer Nacht voller Zahnschmerzen behandelt hatte.

Celine ist eine Zahnärztin mit Herz. Sie bezahlte nicht nur den Uber-Service sondern auch Essen für die  komplette Familie in einem afrikanischen Restaurant am anderen Ende der Stadt. „Und Sie essen auch mit!“, befahl sie mir. Den Vorschlag muss ich leider ablehnen.

Die Fahrt vom sozial schwachen Montrealer Norden bis zum Stadtteil Lasalle, wo die Mieten auch noch erschwinglich sind, dauert 40 Minuten. Genauso lange dauerte die Fahrt, die im Februar das Leben einer Familie verändert hatte, die jetzt in meinem Wagen sitzt.

Harry, seine Frau und die drei Kinder brachen schon am frühen Morgen von ihrem kleinen Dorf in die Hauptstadt Abuja auf. Sie waren mit dem, was sie am Leib trugen, auf der Flucht.

Banditen hatten in der Nacht ihre kleine Farm abgefackelt, nachdem sie Tage zuvor schon die Entführung der zehnjährigen Tochter angedroht hatten. Als die Verbrecher erkannten, dass bei Harry kein Lösegeld zu holen ist, haben sie eben Feuer gelegt. Wieviel Geld ist schon von jemandem zu erwarten, der sich mit ein paar Hühnern, einem halben Dutzend Schweinen und einer kleinen Ziegenherde über Wasser hält?

Also schnappt man sich Mädchen und junge Frauen und verkauft sie an irgendwelche Schergen, die dafür ein paar Nairas bezahlen. Am Abend lese ich: Entführungen mit anschließenden Gruppen-Vergewaltigungen passieren in Nigeria so häufig, dass die eingeschüchterten Medien oft darauf verzichten, überhaupt noch darüber zu berichten.

Als Harry an jenem Februarmorgen mit seiner Familie in Richtung Hauptstadt fährt während der Bauernhof noch in Flammen steht, hat er ein Ziel: Die kanadische Botschaft in Abuja. Dort, so hatte Harry von Landsleuten gehört, seien die Chancen am größten, ein Ausreisevisum zu bekommen.

Doch bis zur Botschaft schafft es die Familie nicht. Als sie ihr Dorf gerade verlassen hat, eröffnen Unbekannte das Feuer auf den offenen Pickup-Truck. Akofa, zehn Jahre alt, bricht im Kugelhagel zusammen. Mehrere Schüsse treffen sie im Unterleib und in der Wirbelsäule.

Das Mädchen ist von der Brust abwärts querschnittsgelähmt.

Wortlos hört sie jetzt auf dem Rücksitz meines Wagens zu, wie ihr Vater mir ihre Geschichte erzählt. Der Rollstuhl klappert im Kofferraum, im Rückspiegel blicke ich in Kinderaugen, die nach Antworten suchen. Eine Frau wischt sich Tränen aus den Augen. Es ist Muttertag und wir stehen im Stau. Es sind bedrückende Momente.

Drei Wochen lang wird Akofa nach dem Attentat in Nigeria notversorgt. Als die Banditen sich auch noch Zugang zu der Klinik verschaffen, die der Familie vorübergehend Unterkunft gewährt hatte, packt Harry seine Tochter in jenen Rollstuhl, der jetzt in meinem Kofferraum klappert, und wird bei der kanadischen Botschaft vorstellig. Eine Ausreise sei bei dem Gesundheitszustand des Mädchens momentan leider nicht möglich, heißt es dort. Sie sollten auf ihre Farm zurück und auf weitere Nachrichten warten.

Doch die Farm gibt es nicht mehr, also wird auch nicht gewartet. Harry ruft einen Nachbarbauern aus dem Dorf an. Der kauft ihm das ab, was noch übrig ist von seinem Bauernhof. Ein paar Äcker, auf denen Mais gedeiht, eine Wiese für die Tiere. Mehr ist es nicht.

Mit dem Geld und ein paar Dokumenten der kanadischen Botschaft macht sich Harrys Familie auf den Weg zum Flughafen und bucht eine Reise nach Montreal, via Frankfurt.

„Warum ausgerechnet Montreal?“, will ich wissen. „Von allen Flügen nach Kanada war Montreal am billigsten“.

Bei der Ankunft dann das übliche Prozedere. Asylantrag, Notunterkunft, Versprechen auf ärztliche Behandlung der gelähmten Tochter. Morgen hat sie wieder einen Krankenhaustermin. Nach drei Monaten hat sich ihr Zustand leicht stabilisiert, aber der Rollstuhl wird ihr bleiben.

Jetzt sitzt diese Familie also bei mir im Uber. Während sich draußen der Stau langsam auflöst und wir uns einem afrikanischen Restaurant mit unaussprechlichem Namen nähern, gehen mir tausend Dinge durch den Kopf. Wie nahe sich gut und böse doch sind. Und wie eng reich und arm nebeneinander liegen.

Weniger als zwei Stunden vor der Begegnung mit Harrys Familie, die mitten im gnadenlos kalten kanadischen Winter eine Flugreise ins unbekannte Montreal gebucht hatte, um Gewalt und Schrecken zu entkommen, sitzt eine junge Asiatin mit Schminkkofer auf meinem Rücksitz. Sie fragt mich, ob ich sie für 600 Dollar nach Toronto fahre. Ich lehne ab.

Warum sie nicht den Flieger nehme, will ich wissen. Für 600 Dollar kann sie in einer Stunde per Business Class von Montreal nach Toronto fliegen. Sie habe Flugangst, sagt sie.

Ich wette, darüber hatte sich Harry keine Gedanken gemacht, als er im Februar zum erstenmal in seinem Leben in Abuja in ein Flugzeug gestiegen ist.

Happy End am Ende der Welt

Dieses Foto ist heute vor 5 Jahren in Cap Finisterre entstanden, dem westlichsten Zipfel von Galicien. Wenn man am Ende der Welt angekommen ist, fällt einem das Lachen leicht. Für uns markiert dieses Bild Ende und Anfang zugleich. Das Ende des Jakobswegs, der uns in 41 Tagen 878 Kilometer zu Fuß durch Spanien geführt hat. Und den Beginn einer Gedächtnisreise, die nie endet.

Seit unserem Camino-Abenteuer ist kein Tag vergangen, kein einziger, an dem wir nicht über das größte gemerinsame Abenteuer unseres Lebens gesprochen haben. Oft genügt ein gedanklicher Funke, ein Erinnerungsschnipsel, der zu einem Tischgespräch führt.

Es sind diese Momente, diese Glücksgefühle, die man auch nur mit jemandem teilen kann, der selbst dabei war.

Wer sonst würde schon verstehen, warum man an 41 Morgen einen 8-Kilo-Rucksack schnürt, bei Regen, Schnee, Sturm und Hitze – nur um am Abend in irgendeinem gottverlassenen Dorf anzukommen, von dem man nicht einmal weiß, ob es eine Herberge für dich bereithält?

Erinnerungs-Optimismus ist wichtig. Man muss nicht als Ewiggestriger in der Vergangenheit schwelgen, um diese Memory-Tour gedanklich noch einmal zu durchwandern.

Wir leben in einer Zeit, in der Krieg schon fast ein Stück Normalität geworden ist und Frieden immer mehr zur Mangelware wird. Wo rechte Irrläufer mit subtiler Gewalt an Einfluss gewinnen, während die Anständigen hilflos zusehen, wie die Verlogenen, die Verblendeten, die Machthungrigen, die Trumps, Melonis, Putins, die Hoeckes und Weidels mit ihren irrwitzigen Argumenten die Welt weiter destabilisieren.

Auch bei uns hat sich seit unserer Camino-Wanderung vor fünf Jahren vieles geändert, zum Teil mit gesundheitlichen Konsequenzen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Aber das Wichtigste ist noch da. Die Liebe, der Anstand und der Respekt füreinander.

Was für ein Glück, dass es in all dem Chaos wenigstens noch etwas gibt, auf das man sich verlassen kann.

>> Hier sind unsere Camino-Erlebnisse noch einmal zum Durchklicken <<

Ein Passagier verfolgt mich

Jetzt laufen sie mir schon hinterher. In jüngeren Jahren hätte ich gesagt: Warum nicht? Es soll ja Menschen geben, die einen auf Anhieb sympathisch finden. Aber er hier? Okay, er war ein netter Fahrgast. Freundlich, hat nicht geschmutzt, erzählt von sich und seiner Familie. Einer, für den es sich gelohnt hatte, die Uber-App auf Empfang zu stellen.

Dass ich diesen Mann schon kurze Zeit nach unserer Fahrt durch die Montrealer Innenstadt wiedersehen würde, ist eine Geschichte für sich.

Die Geschichte geht so:

Ein Geschäftsmann aus New York City hat in Montreal zu tun. Das trifft sich gut, denn seine Mutter, seit kurzem Witwe, lebt dort in einem Vorort. Der Mann, jovial, rundlich, Mitte 40, bestellt mein Uber-Taxi zu einem 5-Sterne-Hotel. Dort steigt er ein, plappert über dies und jenes und erzählt, dass seine Mutter heute Geburtstag hat. Er freue sich darauf, sie und den Rest der Familie zu sehen.

Nach einer Fahrt durch die Rushhour liefere ich ihn vor dem Haus der Mama ab. Ende einer Dienstfahrt.

Für mich sollte es der letzte Uber-Trip dieses Tages werden. Ich freue mich auf die Fahrt aufs Land. Die Farm, wo wir das Wochenende verbringen, liegt eine knappe Autostunde südlich von Montreal.

Das Gras riecht nach Frühling, der Tee nach Feierabend. Vögel zwitschern. Freunde, was kostet die Welt?

Kaum zwei Stunden nach der Ankunft: Ein Auto hält vor dem Bauernhaus. Ein Mann steigt aus, freundlich, rotbackig, jovial, begrüßt mich, als wären wir alte Bekannte.

Wer ist das, fährt es mir durch den Kopf. Müssen wir uns kennen?

Ja, müssen wir. Denn dieser Mann, der mir jetzt die Hand entgegenstreckt und sich immer wieder für den überfallartigen Besuch entschuldigt, ist der Fahrgast, den ich vorhin noch durch den Montrealer Dschungel chauffiert hatte.

„Mein Handy!“, sagt der Mann. Er habe sein Handy bei mir im Wagen liegen lassen.

Okay, denke ich, kann ja mal passieren. Neulich hatte einer eine Trinkflasche im Wagen vergessen, die ich schon bald entsorgt habe. Aber ein Handy?

Und überhaupt? „Woher wissen Sie denn, dass ich hier bin?“

Seine Frau, die mit nach Montreal gekommen war und bei der Schwiegermutter auf ihn wartete, habe den Trackingmodus ihres Handys aktiviert. Damit kann sie den jeweiligen Standort ihres Mannes live auf ihrem Smartphone verfolgen.

Das verschwundene iPhone ist schnell geortet.

Also fahren die Beiden von Montreal in Richtung Süden, immer dem Handy nach, dessen Signal, von mir noch immer unbemerkt, aus dem Uber-Taxi sendet. So präzise funktioniert das Tracking, dass die Ortung bis auf den Rücksitz meines Wagens führt. Auf einem Bauernhof, weit weg von der Montrealer City.

Rundherum zufriedene Gesichter. Ein Geschäftsmann hat sein Handy wieder. Seine Frau liefert ihm den Beweis, dass sich Tracking lohnt. Und ich bin dankbar, dass der nette Mann aus New York City mein letzter Fahrgast war. Nicht auszudenken, wenn sich nach ihm ein Fahrgast ohne mein Wissen das iPhone vom Rücksitz geschnappt hätte.

Notiz an mich selbst: Den Wagen künftig nach jeder Uber-Fahrt nach vergessenen Objekten durchsuchen.

Zur Wochenmitte ein paar Fotos

SURFER im St. Lorenz-Strom. Gesehen im Vorort Lachine.
ES WIRD: Erstes Balkon-Frühstück dieses Jahres.
IMMER WIEDER SCHÖN: Sonnenaufgang in der Montrealer City.
STILLLEBEN in der Bauernstube.
LOTTO-GLÜCK. Oder: Man darf auch mal gewinnen dürfen.
UBER-GLÜCK: 20 Dollar Tip für 23 Dollar Taxifahrt.
PREISFRAGE: Welches Ei ist aus dem Supermarkt, welches direkt von der Farm?
DIE HARTEN kommen aus dem Garten: Erste Blüten dieser Saison.
ES GRÜNT SO GRÜN …zumindest ein bisschen.
WER WEISS, wohin die Reise geht? Spannende Zeiten im Bloghaus.

Von Puvirnituq ins Uber-Taxi

Meine Reise durch die Welt im Uber-Taxi geht weiter: Nachdem ich vor ein paar Tagen eine junge Kongolesin, die in Bordeaux lebt, auf den „Mont Royal“ chauffieren durfte, hatte ich gestern ein Paar der ganz besonderen Art auf dem Rücksitz.

Eine Inuit-Frau mit ihrem Mann. Sie waren von dem Dorf Puvirnituq nach Montreal gereist, um sich hier medizinisch untersuchen zu lassen. Einen entsprechenden Service bietet die Regierung kanadischen Indigenen kostenlos an.

Puvirnituq liegt etwa 2000 Kilometer nördlich von Montreal, in der kanadischen Subarktis. Die Frau ist dort geboren und aufgewachsen. Ihr Mann stammt aus Seattle und kam in den 80er-Jahren vorübergehend als Elektriker in das Dorf.

Er hat sich in diese Inuit-Frau verliebt und lebt bis heute mit ihr dort oben, in der arktischen Kälte. Die Beiden sind weitgehend Selbstversorger und leben von der Jagd und vom Fischfang.

Sie seien seit 47 Jahren verheiratet, erzählen sie mir auf der Uber-Fahrt durch die Vorstädte Montreals. Händchenhaltend sitzen sie auf dem Rücksitz.

Was das Geheimnis einer so langen Ehe sei, will ich von ihnen wissen.

ER: „Die Frau hat immer Recht, auch wenn sie falsch liegt“. SIE: „Ich liege nie falsch!“ Dabei lächeln sie sich wie zwei Frischverliebte an.

Wie kommen zwei, die am Ende der Welt wohnen, überhaupt in ein Uber-Taxi? Im Inuit-Zentrum habe man ihnen nach der Ankunft in Montreal die App aufs Handy geladen. Sie scheinen wunderbar damit zurecht zu kommen.

Ich habe meinem Freund Marc, einem pensionierten Kinder-Kardiologen, die Geschichte meiner Fahrgäste aus Puvirnituq erzählt.

Und jetzt kommt etwas, das mit Zufall kaum mehr zu erklären ist:

Er sagt, er kenne Puvirnituq gut. In den letzten 30 Jahren seiner Karriere sei er zweimal im Jahr von Montreal dorthin geflogen und jeweils zwei bis drei Tage geblieben, um Patienten zu sehen.

In den 80er Jahren konnte die Start- und Landebahn noch keine Düsenjets aufnehmen, also musste er zunächst mit einer B 737 in die Siedlung Kuujjuarapik fliegen und dort in eine kleinere „Air Inuit“ Twin Otter umsteigen.

Im Winter landete das mit Kufen ausgestattete Flugzeug in der zugefrorenen „Hudson Bay“. Dort wurde mein Freund Marc abgeholt und mit einem Motorschlitten zur Pflegestation gebracht. Die ganze Reise dauerte damals sieben bis acht Stunden. Heute ist der Flug von Montreal nach Puvirnituq in weniger als 4 Stunden zu schaffen.

Auf dem Rücksitz meines Uber-Taxis schrumpft die Welt auf ein paar Quadratzentimeter zusammen.

Geschichten wie die obigen bekomme ich fast täglich zu hören. Und natürlich mache ich jeden Abend Notizen über die Gespräche, die ich während des Tages geführt oder manchmal auch nur „versehentlich“ mitgehört habe.

Vielleicht gibt’s doch nochmal ein Buch?